Maßgeblicher Behandlungsstandard
Die Anforderungen an die medizinische Beratung/Behandlung entsprechen dem bisherigen Sorgfaltsbegriff der analogen Behandlung. Damit richtet sich der Sorgfaltsmaßstab nach den Pflichten des Arztes aus dem Behandlungsvertrag, § 630a ff. BGB. Hiernach ist der Arzt verpflichtet, bei der Behandlung den allgemein anerkannten fachlichen Standard (medizinische Indikation/Einwilligung des Patienten/Einhaltung des Facharztstandards) einzuhalten. Neben der Sorgfaltspflicht entsprechen auch Informations- und Aufklärungspflichten, §§ 630 c, 630e BGB, der analogen Behandlung.
Der – de lege lata – noch nicht normierte Standard der Telemedizin umfasst neben Facharztstandard zusätzlich besondere Sorgfaltspflichten, die sich auf die Handhabung und Durchführung der Fernbehandlung sowie auf die Anwender-Compliance beziehen. Die nicht abschließende Aufzählung („insbesondere“) der besonderen Sorgfaltspflichten in § 7 Abs. 4 MBO-Ä bezieht sich auf „Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation“:
- Befunderhebungspflichten: Die umfassende Befunderhebung ist Voraussetzung einer verantwortungsbewussten Diagnosestellung und Therapie. Der besondere Sorgfaltsmaßstab umfasst:
- Prüfung, ob mit der Behandlungsart (Fernbehandlung) der allgemeine Standard eingehalten werden kann (Vertretbarkeit, siehe Haftung bei fehlender Vertretbarkeit)
- Kenntnis der Anforderungen der Befunderhebung nach dem jeweiligen Facharztstandard
- Prüfung, ob die Durchführung der Befunderhebung via Fernbehandlung, die dem Facharztstandard entspricht
Bei der Fernbehandlung verlässt sich der Arzt von vornherein auf eine verkürzte Wahrnehmung bei der Anamnese. Kommt es aufgrund der Behandlungsart zur Vernachlässigung von Befunderhebungspflichten, begegnet der Arzt dem Vorwurf eines Befunderhebungsfehlers, der hinsichtlich des Primärschadens zu einer – den Prozess entscheidenden – Beweislastumkehrung führen kann. Bei lediglich audiogestützter Kommunikation ist das Risiko deutlich höher als bei einer kameragestützten Variante. Doch auch die fehlende Geruchswahrnehmung oder nur Zweidimensionalität des Bildes kann im Einzelfall problematisch sein, so dass die Wahl der Fernbehandlung für den Arzt nicht mehr vertretbar ist.
Der Arzt hat daher eigenverantwortlich zu prüfen, ob die durch den Patienten (bspw. durch mündliche oder schriftliche Mitteilungen) oder durch Kommunikationsmittel (bspw. Videochat) übermittelten Informationen für eine dem (analogen) Standard entsprechenden Befunderhebung ausreichend sind.
- Dokumentationspflicht: Dokumentationsmängel können eine Haftung des Arztes begründen. Es gelten die Grundsätze des § 630f BGB. Im Rahmen der Fernbehandlung muss die Dokumentation zudem den Hinweis enthalten, dass
- eine ausschließliche Fernbehandlung vorlag,
- die ausschließliche Fernbehandlung vertretbar war und warum,
- der Patient hierüber und über die Risiken aufgeklärt wurde und einverstanden gewesen ist.
- Aufklärungspflicht: Bisher war die Frage eines Aufklärungsverschuldens bei ausschließlichem Einsatz eines Fernkommunikationsmittels nicht abschließend geklärt. Das Gesetz erfordert gem. § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB eine mündliche Aufklärung, damit der Patient unmittelbar nachfragen kann. Da bei Einsatz der meisten telemedizinischen Angebote, wie Videotelefonie, Nachfragen möglich sind, wurde das Vorliegen der Mündlichkeit in der bisherigen Literatur anerkannt, jedoch beschränkt auf einfache Behandlungsfälle. Eine nicht persönliche Aufklärung, z.B. über Algorithmen, Papier oder E-Mails war bisher unzulässig.
Dies soll sich mit dem am 7. November 2019 vom Bundestag beschlossenen Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) ändern. In der Gesetzesbegründung, Drucksache 19/13438, S. 70 wird ausgeführt:
„Zu Nummer 37 Zu Buchstabe a: Die berufs-und sozialrechtlichen Ausweitung telemedizinischer Behandlungsmöglichkeiten wird nicht zuletzt zu einer Ausweitung der Nutzung der Videosprechstunde führen. Soweit im Rahmen einer Videosprechstunde eine medizinische Maßnahme vorgenommen wird, ist der Behandelnde verpflichtet, die Einwilligung des Patienten einzuholen und die Patienten zuvor umfassend aufzuklären. Das traditionell übliche persönliche Gespräch in der Praxis des Behandelnden kann heute durch die Verwendung von Telekommunikationsmitteln ersetzt werden, ohne dass Patient und Behandelnder sich in den gleichen Räumlichkeiten aufhalten müssen. Gleiches gilt für die Aufklärungspflicht des Behandelnden gegenüber dem Patienten hinsichtlich Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken einer einwilligungsbedürftigen medizinischen Maßnahme. Die im Rahmen der Begründung des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Bundestagsdrucksache. 17/10488, Seite 24) noch geäußerten Bedenken hinsichtlich der Verwendung von Fernkommunikationsmitteln im Rahmen der Aufklärung auch hinsichtlich schwierig gelagerter Behandlungsfälle bestehen angesichts der rasant gestiegenen und noch immer steigenden technischen Qualität und gesellschaftlichen Akzeptanz von Fernkommunikationsmitteln nicht mehr. Insbesondere bei der Videosprechstunde ist eine dem unmittelbaren Arzt-Patienten-Kontakt vergleichbare Gesprächssituation gegeben, sodass der Patient alle erforderlichen Rückfragen mit dem Behandelnden unmittelbar erörtern kann.“
Der Aufklärungsumfang wird zudem erweitert um die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien gemäß § 7 Abs. 4 Abs. 3 MBO-Ä. Dies betrifft sowohl den Hinweis, dass die Qualität der Daten von dem Kommunikationsmedium abhängig ist, das Risiko eines Datenverlustes sowie den Hinweis auf die sicherere Alternative eines persönlichen Kontaktes.
Ist die Aufklärung unzulänglich, fehlt dem Arzt die rechtfertigende Einwilligung des Patienten in die Behandlung, so dass er sich schadensersatzpflichtig macht.
Da sich für die Telemedizin noch kein allgemein gültiger fachlicher medizinischer Standard herausgebildet hat, gelten die von der Rechtsprechung für neue Behandlungsmethoden entwickelten Sorgfaltsanforderungen. Danach soll vom Behandler die Sorgfalt eines vorsichtigen Behandlers – spezifiziert auf die Umstände der telemedizinischen Behandlungsmethode – eingehalten werden.
Bei Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten haftet der Arzt aus Vertrag und grundsätzlich auch aus Delikt.
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