Experteninterview Teil 1
Digitale Medizin - Aktueller denn je
Die digitale Medizin ist auf dem Vormarsch, denn mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz wird die Digitalisierung im Gesundheitswesen verpflichtend. So können auch Patienten in Deutschland bald von den digitalen Errungenschaften profitieren. In Baden-Württemberg unterstützt die Koordinierungsstelle Telemedizin Baden-Württemberg (KTBW) Unternehmen und Ärzte dabei, dass innovative Ansätze aus der Medizin und der Versorgung ihren Weg zum Patienten finden. Dr. Ariane Pott von der BIOPRO Baden-Württemberg GmbH sprach mit dem Team der KTBW unter anderem über erfolgreiche Ansätze in und aus Baden-Württemberg.
Prof. Dr. Oliver G. Opitz, Florian Burg und Dr. Armin Pscherer (v. l. n. r.) erklären im Interview, welche Chancen und Herausforderungen es im Bereich der digitalen Medizin gibt. © KTBWProf. Dr. Oliver G. Opitz: Prof. Opitz ist Internist und Gastroenterologe. Seit 2014 ist er Leiter des Heinrich Lanz- Zentrums der Universitätsmedizin Mannheim an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Im August 2018 übernahm er die Leitung der Koordinierungsstelle Telemedizin Baden-Württemberg (KTBW).
Florian Burg: Herr Burg ist Gesundheitsökonom und Informatiker. Seit 2017 ist er als Projektkoordinator in der Koordinierungsstelle Telemedizin Baden-Württemberg im Bereich für IT, Finanzen und Marktimplementierung tätig.
Dr. Armin Pscherer: Dr. Pscherer ist Molekularbiologe. Seit 2018 ist er als Projektkoordinator im Bereich Strategie und Transfer in der Koordinierungsstelle Telemedizin Baden-Württemberg tätig.
Herr Prof. Opitz, wie kann die Digitalisierung der Medizin bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie unterstützen?
Die Corona Pandemie ist seit Jahrzehnten die größte Herausforderung für unsere Gesellschaft und insbesondere für das Gesundheitswesen. Die Zahl der weltweit und der in Deutschland an dem neuen Coronavirus SARS-CoV-2 erkrankten Menschen steigt rasch. Rund vier von fünf Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus verlaufen nach aktuellem Kenntnisstand mild. Das bedeutet aber auch: Einem von fünf Erkrankten droht ein schwerer Krankheitsverlauf, meist kommt es zu einer Lungenentzündung, in manchen Fällen führt Covid-19 zum Tod. Neben der Notwendigkeit alle vorhandenen Kräfte in unserem Gesundheitssystem zu mobilisieren, sind jetzt innovative und unkonventionelle Lösungen gefragt. Dabei können digitale und telemedizinische Technologien unterstützen und schützen, und dies schnell und effektiv!
Video-Sprechstunde, Chat-Bots und Apps ermöglichen Datenaustausch und Kommunikation ohne Ansteckungsgefahr. Ihr Einsatz schützt vor allem das medizinische Personal und senkt das Infektionsrisiko ganz allgemein. Die Koordinierungsstelle Telemedizin Baden-Württemberg (KTBW) verfolgt seit nun geraumer Zeit das Ziel, digitalmedizinische Projekte und innovative Konzepte auf dem Weg in die Versorgung zu begleiten und voranzutreiben. Covid-19, beeinflusst nun so vehement den Versorgungsalltag, dass wir fieberhaft daran arbeiten, die Vorteile der tele- und digitalmedizinischen Anwendungen ganz aktuell auch zur Überwindung der Pandemie zu nutzen!
Und wie ist Baden-Württemberg derzeit im Bereich der digitalen Gesundheit und Medizin aufgestellt?
Zweifelsfrei nimmt Baden-Württemberg eine bundesweite Vorreiterrolle im Bereich der digitalen Gesundheit und Medizin ein. Dies reicht von den digitalmedizinischen Entwicklungen, sowohl im Medizintechnikbereich als auch im Bereich der Versorgungsangebote bis hin zu Projekten der Spitzenmedizin unter anderem mit Einbindung von innovativen KI-Komponenten. Auch die Rahmenbedingungen für die Implementierung digitaler Versorgungsangebote waren mit der sehr frühen Lockerung des Fernbehandlungsverbotes einmal sehr fortschrittlich. Inzwischen sind die meisten Bundesländer nachgezogen und mit Ausnahme von Brandenburg ist die Lockerung des bisher geltenden Verbots der ausschließlichen Fernbehandlung entsprechend dem Beschluss des Deutschen Ärztetags 2018 übernommen worden. In Baden-Württemberg ist die ausschließliche Fernbehandlung weiterhin nur nach Antrag bei der Landesärztekammer BW möglich. Ein Arzt aus Berlin darf somit einen Patienten in Stuttgart telemedizinisch behandeln, ein Arzt aus Stuttgart darf dies ohne Beantragung und Genehmigung durch die Ärztekammer Baden-Württemberg nicht. Deutsche Patienten könnten sich zudem von ausländischen Ärzten telemedizinisch behandeln lassen. Die Gesetzliche Krankenversicherung muss dies in Höhe der dafür in Deutschland vorgesehenen Erstattung vergüten. Insgesamt arbeitet die KTBW daran, dass die Rahmenbedingungen in Baden-Württemberg wieder den exzellenten Entwicklungspotentialen im Bereich der digitalen Gesundheit angepasst werden und der Standort weiter an Attraktivität für die Ansiedlung digitalmedizinischer innovativer Unternehmen gewinnt.
Mit dem Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg hat die Landesregierung 2018 eine strategische Grundsatzentscheidung getroffen, um den Gesundheitssektor als Branche der Zukunft für Baden-Württemberg zu priorisieren und unter anderem die Digitalisierung im Gesundheitssektor signifikant zu fördern. Innerhalb des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg interagieren inzwischen hochrangige Experten entlang der gesamten Gesundheits-Wertschöpfungskette. Von der Landesregierung werden Modellprojekte innerhalb des Forums auf Basis des Doppelhaushalts 2020/21 mit insgesamt 50 Millionen Euro gefördert.
Durch viele Best Practice-Modellprojekte ist Baden-Württemberg im Bereich digitale Gesundheit momentan und auch perspektivisch so gut aufgestellt, um hier auch weiterhin als innovativer First Mover agieren zu können.
Herr Dr. Pscherer, welche Beispiele für besonders innovative Anwendungen von digitalen Techniken im Gesundheitswesen in Baden-Württemberg können Sie nennen?
Innovative digitale Lösungen und Modellprojekte werden entlang der gesamten gesundheitlichen Wertschöpfungskette sektorenübergreifend getestet und mit verschiedensten Stakeholdern implementiert. Dies findet unter Berücksichtigung der im Gesundheitsleitbild des Landes Baden-Württemberg niedergelegten vier Säulen von Prävention und Gesundheitsförderung, ambulanter Versorgung, stationärer Versorgung und Pflege statt.
Die Beispiele hierfür sind auf nationaler Ebene in der Tat „Eisbrecher“ im bisherigen Versorgungssystem. Seit 2018 besteht die Möglichkeit der ausschließlichen Fernbehandlung auf Antrag bei der Landesärztekammer (Modellprojekt DocDirekt), seit Oktober 2019 existiert die bundesweit erste Ohne-Arzt-Praxis in Spiegelberg, bei der ärztliche Leistungen an medizinische Fachangestellte (Modellprojekt TeleMedicon) delegiert werden, seit November 2019 gibt es das bundesweit erste eRezept-Modellprojekt (GERDA), und ab dem Jahr 2020 wird die Vorreiterrolle für die Akademisierung und digitalmedizinische Qualifizierung der Pflegeberufe durch weitere Finanzierungshilfen des Landes nochmals gestärkt.
Im Projekt AMBIGOAL sollen im Rahmen des Projekts Digital Black Forest telemedizinische Lösungen in der Region Nordschwarzwald angeboten werden. © Erich Westendarp / PixabayWeiterhin können im Campus-Projekt #ealth4students Studenten in ihrer neuen Umgebung am Studienort digitalmedizinisch einen Hausarzt konsultieren. Im Projekt TELEDERM implementiert die AOK BW teledermatologische Konsile in die hausärztliche Versorgung, um eine schnellere und effektivere Facharztversorgung zu gewährleisten. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Tübingen werden hochschulmedizinische Spezialambulanzen im Bereich der internetbasierten Frühintervention und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörungen, psychischen und Suchterkrankungen angeboten, um hierfür einen niedrigschwelligen Zugang im gesamten Landesgebiet bieten zu können und die Stigmatisierung in der Psychotherapie effektiver überwinden zu können.
Zudem möchte ich das Modellprojekt AMBIGOAL erwähnen, welches im Frühjahr 2020 starten wird und gewissermaßen eine Weiterentwicklung der Ohne-Arzt-Praxis darstellt. In beiden Modellprojekten werden telemedizinische Lösungen und Angebote mit kommunaler Verwurzelung umgesetzt. Dabei findet eine digitalmedizinische Fernbehandlung mit Ärzten aus der Region statt. Der erste Ansprechpartner ist ein medizinischer Fachangestellter in einem ambulanten Gesundheitszentrum vor Ort. Hier wird der Patient ins System aufgenommen und kann im Anschluss mit einem teilnehmenden Hausarzt - zum Beispiel aus dem Nachbarort - digital verbunden werden. Somit wird das Projekt AMBIGOAL direkt in die kommunale Digital Black Forest-Initiative eingebunden und dadurch in der gesamten Region Nordschwarzwald verankert.
Herr Burg, warum ist eine Digitalisierung des Gesundheitswesens so besonders wichtig für die medizinische Versorgung der Patienten?
Die Verfügbarkeit von medizinischem Fachpersonal – seien es Ärztinnen und Ärzte oder Krankenpflegeexperten – ist mancherorts schon nicht mehr gegeben. Der Bedarf wird zudem zukünftig noch weiter ansteigen. Neben vielen weiteren Maßnahmen wie der Delegation, ggf. sogar Substitution, ärztlicher Leistungen wird die Digitalisierung ein Mittel sein, das die Experten dabei unterstützten wird, medizinische Leistungen besser und schneller zu erbringen. Durch die Digitalisierung ergibt sich zudem die Möglichkeit, darauf aufbauend weitere innovative Verfahren zu etablieren. Die digitalisierte Audiodatei zum Beispiel, die beim Abhören von Herz- und Lungentönen mittels eines Stethoskops entsteht, lässt sich relativ problemlos bereits heute um einen zertifizierten Algorithmus ergänzen, der eine medizinische Vorbefundung leisten kann und damit der Ärztin und dem Arzt bereits Hinweise darauf geben kann, ob es sich zum Beispiel um eine Bronchitis handeln könnte. So lassen sich die Arbeitsabläufe beschleunigen und Zeit bei der knappen Ressource „ärztliche Tätigkeit“ sparen; dabei aber gleichzeitig die Versorgung verbessern und Kosten für die Gesellschaft sparen.
Ein besonders wichtiger Aspekt ist dabei, dass digitale Prozesse den Experten helfen, medizinische Fragestellungen zu klassifizieren und für den jeweiligen Bedarf die optimale Versorgungsform zu identifizieren. So können wertvolle Ressourcen besser verteilt und zeitliche Freiräume geschaffen werden, die zum Beispiel für eine menschliche Zuwendung zugunsten des Patienten sinnvoller genutzt werden können.