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Die Telemedizin hilft besonders Chronisch Kranken

Der 75-jährige Hans-Günter Meyer ist als Botschafter für die Telemedizin viel unterwegs. Fast 40 Jahre war er bei IBM tätig, danach als freiberuflicher Medizinprodukteberater. Zusammen mit einem IBM-Vertriebspartner war er auch bei der Einrichtung eines e-Portals mit elektronischer Patienten- und Fallakte für Telemedizinzentren beteiligt. Ein Gespräch mit dem Patientenvertreter über seine Motivation und Ziele.

Sie nennen sich „Botschafter für die Telemedizin“, vertreten Patienten. Woher rührt Ihr Engagement?

Portraitfoto von Hans-Günter Meyer, Botschafter für die Telemedizin.
Hans-Günter Meyer, Botschafter für die Telemedizin. © H.-G. Meyer

Es hat mit meiner gesundheitlichen Vergangenheit zu tun. Ich litt unter Bluthochdruck und vertrug die verschriebenen Tabletten schlecht. In Absprache mit meinem Hausarzt habe ich 2011 deshalb das IFAT (Institut für angewandte Telemedizin) beim Herz- und Diabeteszentrum NRW1 kontaktiert und dort um Teilnahme an einem telemedizinischen Programm zur Bekämpfung meines Bluthochdrucks gebeten. Nach einem Leistungs-Check mit bildgebenden Untersuchungen wurde mir ein stressbedingter Belastungs-Bluthochdruck, eine Herzmuskelverdickung und eine leichte Mitralklappen-Undichtigkeit diagnostiziert. In fünf oder sechs Jahren drohe mir deshalb ein Herzinfarkt oder Schlaganfall. Der Oberarzt schlug mir eine telemedizinisch gestützte Betreuung vor.

Wie lief diese ab?

Ich erhielt eine Patientenbroschüre und ein Blutdruckmessgerät, mit dem ich zwei Mal täglich meinen Blutdruck und Puls messen sollte. Über eine Bluetooth-Verbindung zum ebenfalls ausgehändigten Handy übertrug ich diese Vitalparameter an das Telemedizinische Zentrum in eine elektronische Patienten-Fallakte, ebenso einmal wöchentlich die Daten eines mobilen EKG-Gerätes. Auf Mietbasis wurde mir ein pulsgesteuerter Fahrrad-Ergometer mit Trainingsplan für das Ausdauertraining zur Verfügung gestellt, und neben dem Telemonitoring erhielt ich einmal wöchentlich ein intensives telefonisches Coaching durch eine Medizinische Fachangestellte (MFA) mit Ernährungsberatung und Stressbekämpfung. Sie stand mir stets für Rückfragen und Therapieberatung zur Verfügung, kontrollierte den Medikationsplan und meine übermittelten Vitaldaten. Überschritten diese den Grenzbereich, erhielt ich Kontakt zu einem Sportmediziner oder Kardiologen im IFAT. Die telemedizinisch gestützte Versorgung erfolgte in enger Abstimmung mit meinem behandelnden Hausarzt und meiner mitbehandelnden Kardiologin.

Welches Ergebnis hatte Ihre telemedizinische Versorgung?

Während der Behandlung, die ich nach Arztabsprache von zwölf auf 18 Monate verlängerte, wurde festgelegt, dass ich keine blutdrucksenkenden Arzneimittel mehr benötige. Die telemedizinisch gestützte Therapie war ein voller Erfolg: ich habe eine viel bessere, stressfreie Lebensqualität, ernähre mich ausgewogener, bewege mich regelmäßig. Dadurch wurde auch mein Immunsystem gestärkt.

Warum haben Sie als Botschafter der Telemedizin begonnen?

2017 habe ich einen Vortrag beim 5. Bayerischen Tag der Telemedizin gehalten: „Mehr Lebensqualität durch Telemedizin – Meine persönlichen Erfahrungen als Hochdruckpatient. Projekt: Erstbesteigung zum Gesundheitsgipfel mit 68 Jahren“.

Warum diese Metapher?

Ich wollte meinen Gesundheitsgipfel in kleinen Schritten erklimmen, brauchte aber dafür eine Seilschaft: MFAs und Fachärzte am IFAT sowie mitbehandelnden Hausarzt und Kardiologin. Jetzt stand ich oben und sagte mir: Menschenskind, das ist eine tolle Sache, die wir anderen Menschen als Regelversorgung zur Verfügung stellen könnten. Dazu habe ich die Idee zum gemeinsamen Bau einer „Seilbahn zum Gesundheitsgipfel“ entwickelt, damit möglichst viele Menschen mit Krankenkassen-Tickets und durch Vernetzung aller Versorgungsbereiche leichter den Gesundheitsgipfel erreichen können.

Und Ihre Botschaft?

Telemedizinisch gestützte Versorgung hilft besonders chronisch kranken Patienten, optimiert die Vorsorge und den gesunden Lebensstil. Sie senkt die Zahl der stationären Behandlungen, verbessert die Resilienz, die Adhärenz, und steigert die Gesundheitskompetenz des Patienten. Telemedizin nimmt auch immer mehr eine Rolle im Arzt-Alltag ein. Daher muss diese evidenzbasierte und leitliniengerechte Leistung ein Teil der Regelversorgung werden.

Warum chronisch Kranke?

Das ist der erste Ansatz: Wie hilft man möglichst Vielen? Wo besteht Dringlichkeit und wo sind wir bereits einen Schritt weiter mit der Telemedizin, wie z.B. im Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart2 ,3 oder in der Charité, die in Kooperation mit den Krankenkassen den Fokus auf chronisch Kranke und speziell auf die ca. 2 Millionen Herzinsuffizienz-Patienten in Deutschland gelegt haben. Aber auch behinderte Menschen müssen wir im Blick behalten, denn für sie und ihre Betreuer wird ein Arztbesuch oftmals zur Tortur. Ich spreche hier als Vater meiner geistig behinderten Tochter.

Ein Einzelner erreicht wenig, Sie haben sich vernetzt?

Ich habe mich dem Aktionsbündnis Patientensicherheit angeschlossen, danach der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (DAG SHG) und bin jetzt auch Mitglied des Vereins Digitale Gesundheit Baden-Württemberg. Eng arbeite ich mit den Telemedizinischen Koordinierungsstellen in Baden-Württemberg, Bayern, NRW und Hessen zusammen und nutze das Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg.

Wie werden Patienten telemedizinisch versorgt?

Der Arzt kann heute schon virtuelle Visiten nutzen, damit er für seine Patienten auch zu Hause, am Arbeitsplatz oder im Urlaub für die Patienten erreichbar ist und sie betreuen und behandeln kann. Auch ich habe Anfang des Jahres die Telefon- und Onlineberatung des TeleArztes „docdirekt“ der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg4 in Anspruch genommen. Eine Allgemeinmedizinerin aus Bad Urach konnte mir zur Behandlung meines grippalen Infektes sehr helfen. Mir blieb am nächsten Tag der Weg ins volle Behandlungszimmer mit Ansteckungsgefahr für andere Patienten erspart. Die Patienten möchten heute mitreden und mitentscheiden. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung unterstützt die Telemedizin durch die Schaffung von Abrechnungsmöglichkeiten für die Videosprechstunde bei Ärzten und Psychotherapeuten5.

Sie arbeiten in der Arbeitsgruppe zur Entwicklung der Nationalen Versorgungsleitlinie Hypertonie (NVL) mit.

Ja, im Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin arbeiten Ärzte aus verschiedenen Verbänden, und ich als vom DAG SHG delegierter Patientenvertreter zusammen. Ich bringe die Patientensicht mit ein und das was ich gelernt habe, um den Bluthochdruck auch ohne Medikamente zu senken. Zu jeder NVL wird auch eine Patientenleitlinie publiziert, die diesen befähigen soll, zusammen mit dem Arzt z. B. eine Therapie-Entscheidung gemeinsam und gleichberechtigt zu finden und durchzuführen. Die Leitlinienarbeitsgruppen sind auch eingebunden in die Qualitätssicherung von Gesundheits-Apps nach dem Digitale-Versorgungsgesetz (DVG).

Gibt es da schon Tipps für Patienten?

Ja, auf der Website des Aktionsbündnisses Patientensicherheit gibt es eine Checkliste zur Auswahl dieser Apps6 und auch über die Info- und Bewertungsplattform für Gesundheits-Apps HealthOn7.

Sie nutzen eine App vom Bundesverband Niedergelassener Kardiologen.

Bilder der App CardioCoach, eine vom Bundesverband Niedergelassener Kardiologen empfohlene App.
CardioCoach, eine vom Bundesverband Niedergelassener Kardiologen empfohlene App.

Ja, die mir von meinem Kardiologen empfohlene und kostenfreie BNK CardioCoach App8. Mit Hilfe des Smartphone kann ich damit meine Gesundheitsdaten erfassen und speichern:  Arztbriefe, Laborbefunde, Medikation, Impfpass, Patientenverfügung, Termine und auch Vitaldaten wie Blutdruck, Puls und Gewicht.  Mit einem Code kann ich meine Daten in einer virtuellen Visite jedem Arzt, Krankenhaus und Pflegeeinrichtung zeitlich begrenzt zur Verfügung stellen.

Sind Sie als App-Nutzer stets Herrscher über Ihre sensiblen Daten?

Absolut, denn die digitale Gesundheitskompetenz hat die Datensouveränität zum Ziel. Und dieses Recht lasse ich mir als Patient nicht nehmen. Das fängt schon bei meinem Recht auf Herausgabe der Gesundheitsdaten an und setzt sich mit der Speicherung in eine patientengeführte und arztkontrollierte Patientenakte fort. Ich entscheide immer, wer meine Daten erhält, entweder für die Diagnose und Therapie an die behandelten Ärzte oder anonymisiert zur Weiterentwicklung der Personalisierten Medizin für die Forschung beispielsweise über die BWHealthCloud9.

Ist Ihre App bereits zertifiziert?

Nein, nach dem neuen DVG ist sie noch nicht zertifiziert10, aber von einem medizinischen Fachverband freigegeben. Nach Abstimmung mit meinem behandelnden Kardiologen war die sofortige Verfügbarkeit ausschlaggebend.

Was wären erste Anforderungen an künftig zu zertifizierende medizinische Apps?

Apps auf Rezept müssen sich an den Nationalen Versorgungsleitlinien orientieren und evidenzbasiert sein. Aus Sicht der Ärzte, Krankenkassen und Patienten haben wir dies auf unserer Digitale Gesundheit Baden-Württemberg12 Info-Veranstaltung „Gesundheits-Apps–Relevanz für die Behandlung“13 diskutiert. Unser Fazit: Gesundheits-Apps sind ein wichtiger Baustein zur digitalen Transformation im Gesundheitswesen mit besserer Gesundheitsversorgung der Patienten. Für eine erfolgreiche Umsetzung sind Patienten ein wichtiger Partner auf dem gemeinsamen Weg zu einer zukunftsweisenden Versorgung.

Anmerkungen/Literatur:

1) Institut für angewandte Telemedizin (IFAT) im Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen: https://www.hdz-nrw.de/kliniken-institute/institute/angewandte-telemedizin.html

2) Telemedizinisches Zentrum des Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart: https://www.rbk.de/disziplinen/interdisziplinaere-zentren/telemedizin.html

3) Fachbeitrag, Telemedizin hilft Herzinsuffizienz-Patienten, 7.11.2018, https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/telemedizin-hilft-herzinsuffizienz-patienten

4) TeleArzt „docdirekt“ der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg: https://www.docdirekt.de/start/

5) Videosprechstunde Kassenärztliche Bundesvereinigung: https://www.kbv.de/html/videosprechstunde.php

6) Checkliste zur Auswahl von Gesundheits-Apps: https://www.aps-ev.de/checkliste/

7) Info- und Bewertungsplattform für Gesundheits-Apps: https://www.healthon.de/

8) App des Bundesverbandes Niedergelassener Kardiologen zur Unterstützung der Herzgesundheit: https://www.bnk-cardiocoach.de/#/

9) bwHealthCloud: https://www.telemedbw.de/projekte/bwhealthcloud

10) Das BfArM soll künftig medizinische Apps auf Rezept zertifizieren: https://www.bfarm.de/DE/Medizinprodukte/DVG/_node.html Derzeit gibt es nur einen Referentenentwurf aus dem Gesundheitsministerium (15.01.2020 (abgerufen: 17.03.2020): https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/D/DiGAV_Referentenentwurf.PDF Stellungnahme des Aktionsbündnisses Patientensicherheit zu obigem Entwurf, 17.02.2020: https://www.aps-ev.de/wp-content/uploads/2020/02/200217_SN_DiGAV-final.pdf

11) Digitale Gesundheit Baden-Württemberg e.V.: https://www.digitale-gesundheit-bw.de/

12) DG-BW Info-Veranstaltung mit Expertenrunde „Gesundheits-Apps – Relevanz für die Behandlung“: https://www.digitale-gesundheit-bw.de/news/gesundheits-apps-die-zukunft-bleibt-spannend

 

Seiten-Adresse: https://www.telemedbw.de/news/die-telemedizin-hilft-besonders-chronisch-kranken