Mit Telemedizin Zwangsstörungen in Kindheit und Jugend behandeln
Wenn Zwänge den Alltag beherrschen, kann das Leben zur Qual werden. Ein neues Behandlungskonzept setzt auf Telemedizin, um bei Kindern und Jugendlichen so früh und so effektiv wie möglich zu helfen. Ein Pilotprojekt in Tübingen zeigt, wie das in der praktischen Umsetzung funktioniert.
Der Psychotherapeut Karsten Hollmann (ganz li) und das Team der Abteilung Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter betreuen die Teilnehmer an der Telemedizin-Studie.
© KJP - AG iCBT
Noch sind es Pionierprojekte aufgeschlossener Ärzte und Forscher sowie innovationsfreudiger IT-Abteilungen, bei denen neue telemedizinische Ansätze in die Behandlung integriert werden. Wenn sich die Erfolge mehren, ist es aber nur eine Frage der Zeit, wann die Telemedizin in der Regelversorgung ankommt. Das Universitätsklinikum Tübingen hat in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter ein besonders aussichtsreiches Projekt angepackt. In einer Machbarkeitsstudie wurde mit einigen wenigen Patienten ausgelotet, ob und wie gut sich Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen via Telemedizin betreuen lassen. Die Studie lief von Februar 2016 bis Sommer 2018 und wurde vom Klinikum aus eigenen Mitteln finanziert. Das Ergebnis ist eindeutig: „Bei allen Teilnehmern, die sich explizit dafür entschieden haben, hat es gut funktioniert und die technische Umsetzung ist gelungen“, fasst der hauptverantwortliche Psychotherapeut Karsten Hollmann zusammen.
Das Projektteam will nun gemeinsam mit dem klinikeigenen Geschäftsbereich IT den Erfolg auf eine breitere Basis stellen. Sie haben ein telemedizinisches Behandlungskonzept für 40 junge Menschen im Schulalter entwickelt, die an Zwangsstörungen leiden. Das Projekt wurde im August 2018 gestartet und läuft bis 2020. Es wird mit rund 250.000 Euro vom Landesministerium für Soziales und Integration gefördert.
Einmal wöchentlich findet eine 90-minütige Video-Therapiesitzung statt.
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Da es sich um ein Landesprojekt handelt, können grundsätzlich Betroffene aus ganz Baden-Württemberg teilnehmen. Besonders angesprochen sind Heranwachsende im ländlichen Raum, da hier der Zugang zu einer adäquaten Behandlung oft erschwert ist: Die Therapeutendichte ist niedrig und die Wege zu Fachzentren sowie die Wartezeiten für Psychotherapieplätze sind lang. Und der Leidensdruck ist fast immer sehr hoch, wie Hollmann weiß: „Wenn die Familien zu uns kommen, haben sie häufig schon verschiedene Therapieansätze ohne nennenswerten Erfolg ausprobiert, vielleicht auch schon eine medikamentöse Behandlung hinter sich. State of the Art ist heute die kognitive Verhaltenstherapie und die wollen wir nun auch den Patienten zukommen lassen, die keinen Psychotherapeuten vor Ort finden.“
Natürlich passt das Telemedizin-Konzept nicht in allen Fällen, räumt Hollmann ein. Wenn die jungen Patienten zum Beispiel nicht zur Schule gehen können oder zusätzlich andere schwerwiegende Erkrankungen haben, kommen sie für dieses Pilotprojekt nicht infrage. „Die grundsätzliche Eignung klären wir vorab telefonisch. Wenn das Gespräch positiv verläuft, kommt es zu einem ersten persönlichen Gespräch und wir führen eine ausführliche Exploration der Zwangssymptomatik durch. Zur Diagnostik gehört auch, eventuelle Begleiterkrankungen abzuklären. Der Zwang muss die Hauptsymptomatik sein. Stellen wir fest, dass zum Beispiel eine Essstörung vorherrscht, müsste zunächst diese behandelt werden.“
Zwänge abbauen – mithilfe mobiler Endgeräte und modernster IT
Auch Zählzwänge werden mit der kognitiven Verhaltenstherapie behandelt.
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Zwangsstörungen können sich ganz vielfältig äußern. Weit verbreitet sind zum Beispiel Wasch- und Zählzwänge. Eines haben diese Störungen gemeinsam: „Zwangshandlungen sind dysfunktionale Versuche, um die schlechten Gefühle zu verringern, die bestimmte Gedanken oder Bilder im Kopf auslösen. Die mit dem Zwang verbundenen Rituale nehmen häufig viel Zeit in Anspruch und beeinträchtigen das Sozialleben. Die kognitive Verhaltenstherapie zielt zunächst darauf ab, zu diesen Gedanken auf Distanz zu gehen. Sich davon distanzieren zu können ist ein wichtiger Schritt, um sich dem Zwang besser entgegenzustellen und ihn langfristig zu überwinden“, erklärt Hollmann.
In diesem Projekt wird die Therapie im Grunde wie eine klassische kognitive Verhaltenstherapie durchgeführt – nur eben mit telemedizinischer Unterstützung. Dabei findet die erste 90-minütige Therapiesitzung persönlich statt, während die wöchentlich folgenden 13 Sitzungen am Bildschirm ablaufen. Dafür erhalten die Betroffenen speziell konfigurierte Tablets und Handys. Auf ihnen sind speziell entwickelte Apps mit altersgerechten elektronischen Fragebögen installiert. Damit geben die jungen Patienten regelmäßig an, wie es ihnen geht. Auch die Eltern erhalten – quasi zum Gegencheck – elektronische Fragebögen, mit denen ihre Sicht erfasst wird. Zusätzlich werden auch physiologische Daten erfasst: Die Kinder und Jugendlichen erhalten ein Armband, das ähnlich wie bei einem üblichen Fitness-Armband zum Beispiel die Herzfrequenz misst. Damit soll das Angst- und Stress-Erleben der Patienten nachvollzogen werden und es kann mit den Angaben aus dem App-Fragebogen ausgewertet werden. Die Armband-Daten werden via Bluetooth an das Handy übermittelt und von dort pseudonymisiert über gesicherte Verbindungen an die Datenbank des Klinikums gesendet. Fremdnutzung ist auf den vorkonfigurierten Handys und Tablets nur sehr begrenzt möglich, um die Datensicherheit zu erhöhen – ein Aspekt, den die Forscher äußerst ernst nehmen.
Waschzwänge gehören zu den häufigsten Zwängen überhaupt, auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
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Zur Sammlung und Auswertung der Daten hat die IT-Gruppe des Universitätsklinikums um Dr. Lautenbacher eine eigene Datenbank entwickelt. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse können dann direkt in die weitere Behandlung einfließen. „Die technischen Voraussetzungen für die Datenerhebung und -verarbeitung zu schaffen war alles andere als trivial. Das IT-Team hat hier hervorragende Arbeit geleistet und für maximale Sicherheit gesorgt“, so Hollmann. Da der gesamte Datentransfer pseudonymisiert abläuft, können die Daten nicht zugeordnet werden. Das gilt selbst dann, wenn das Handy gestohlen werden sollte oder verloren geht, denn es sind keinerlei Namen, Adressen oder sonstigen persönlichen Dinge auf den konfigurierten Geräten speicherbar.
Datensicherheit wird groß geschrieben
Mit einer speziell dafür entwickelten App geben die Kinder und Jugendlichen an, wie es ihnen geht.
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Für den Therapeuten am Klinikum werden die Daten mit einer speziell dafür entwickelten Software aufbereitet. „Das Projekt dient auch dazu, die Auswertungen zu optimieren und sie zum Beispiel anhand von Grafiken so zu visualisieren, dass wir uns schnell ein Bild machen können“, sagt Hollmann. „Wir erfahren dann, wie die Woche lief, und zwar sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdeinschätzung. Entsprechend gut kann ich mich auf die wöchentliche Sitzung vorbereiten.“ Damit ist viel Zeit gespart – Zeit, die der Therapeut einem zentralen Element der kognitiven Verhaltenstherapie widmen kann, nämlich der begleiteten Auseinandersetzung mit dem Zwang. Hollmann führt den Waschzwang als Beispiel an: „Ich kann das Kind per Video direkt in seiner gewohnten Umgebung bitten, die zwangsauslösende Tätigkeit auszuführen – zum Beispiel eine Türklinke anzufassen – und sich danach nicht wie üblich die Hände zu waschen. Nach einer gewissen Zeit lässt der Drang dazu dann gewöhnlich nach“. Wenn das Kind für die Dauer der Therapiesitzung durchhält, ist damit schon ein guter Anfang gemacht. Ähnlich funktioniert das auch mit Zählzwängen und vielen anderen Störungen. Ein weiterer Vorteil der Internet-Therapie: Dank dem mobilen Tablet kann dieser Therapieteil auch recht einfach an anderen Orten durchgeführt werden – je nachdem, wo der Zwang am stärksten auftritt.
Ziel ist es wie bei jeder kognitiven Verhaltenstherapie, die Symptomatik zumindest so weit zu senken, dass die Kinder und Jugendlichen in ihrem Alltag nicht mehr eingeschränkt sind. Hollmann hofft, mithilfe der Telemedizin den Zugang zur Therapie zu erleichtern und Betroffene früher und effektiver behandeln zu können, denn das verbessert die Erfolgsaussichten. „Ausschlaggebend ist so oder so eine stabile therapeutische Beziehung zwischen Arzt und Patient und die gelingt nach den bisherigen Erfahrungen genauso gut per Video.“ Mittel- und langfristig hält er telemedizinische Ansätze auch bei anderen Erkrankungen für sinnvoll und kann sich vorstellen, das Konzept zum Beispiel auf die Behandlung von Angststörung oder Depression auszuweiten.