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PraCMan steigert die Lebensqualität der Patienten

Das neue Versorgungsmodell "PraCMan - Hausarztpraxis-basiertes Case Management" will die Zahl vermeidbarer Krankenhauseinweisungen chronisch Kranker senken. Eine aufwändige klinische Studie mit rund 2.000 Patienten soll das überprüfen, verfehlt aber ihr primäres Ziel. Dennoch wird der Ansatz zum Erfolg.

Die AOK Baden-Württemberg, die das neue Versorgungsmodell mit dem AOK Bundesverband finanziert, nimmt es in die flächendeckende Regelversorgung auf. Ein Widerspruch? Nein, außer man misst nur mit der akademischen Elle. Erstautor Dr. med. Tobias Freund von der Universität Heidelberg, der das Modell mit Wissenschaftlern aus Frankfurt am Main und Jena sowie Hausärzten aus der Region entwickelt hat, löst den vermeintlichen Widerspruch rasch auf.

PraCMan: Einzelcoaching für Mehrfachkranke

Speziell fortgebildete medizinische Fachangestellte (Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis (VERAH®)) erfassen in einem durchschnittlich 30-minütigen Gespräch Versorgungsprobleme der Hochrisiko-Patienten wie Medikation, Depressivität, Schmerzen, Alltagsaktivitäten, Mobilität, Sturzrisiko und soziale Unterstützung. Daraus wird – meist in einem gesonderten Gespräch – zusammen mit dem Hausarzt eine Art Zielvereinbarung für den Patienten entwickelt, die in konkrete Einzelschritte heruntergebrochen und in einem umfassenden Patiententagebuch festgehalten wird.

Die prozessorientierte und auf wirksame Selbstsorge des Patienten ausgerichtete Versorgungsplanung wird durch regelmäßiges, vom Arzt verordnetes Monitoring unterstützt. Dies geschieht durch individualisiertes Telefonmonitoring mit vorformulierten Fragen, bei denen zunächst eruiert wird, ob ein Notfall ausgeschlossen werden kann. Die Fragen basieren auf den Ergebnissen des Assessments und der jeweiligen Zielvereinbarung. Die Hochrisiko-Patienten würden gewissermaßen „gecoacht“, sagt Tobias Freund, immer wieder werde an den Zielen gearbeitet, immer wieder der Gesundheitszustand überprüft.

Der Studie lag die Grundannahme zugrunde, dass mit speziellem Case Management, alltagsnaher und regelmäßiger Begleitung durch VERAHs, der Patient durch eigenes Zutun, aber auch mit Hilfe seines Hausarztes die jeweiligen Krankheiten so in den Griff bekommt, dass er seltener ins Krankenhaus muss.

Die Studie erprobte das von Dezember 2010 bis Ende 2013 erstmals indikationsübergreifend. An der Studie nahmen 115 Hausarztpraxen („klassische Versorger“, Freund) mit rund 2.000 Patienten teil, Hochrisikopatienten mit Diabetes mellitus Typ 2, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) oder chronischer Herzinsuffizienz, die laut Analyse der Versicherungsdaten ein erhöhtes Hospitalisierungs-Risiko aufwiesen.

Bei umsorgten Patienten steigt Lebensqualität

Dr. med. Tobias Freund, Projektverantwortlicher für PraCMan, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg und seit 2015 auch niedergelassener Arzt in Südhessen. © Universität Heidelberg

Zwar verfehlt die Studie ihr primäres Ziel, die Rate der Krankenhauseinweisungen in zwölf Monaten zu verringern. Dass die Krankenkasse aber nicht auf die fehlende statistische Signifikanz des primären Studienziels blickt, hat mit einem weiteren Ergebnis der Studie zu tun, das die Wissenschaftler als sekundäres Ziel bestimmten: PraCMan-Patienten haben eine bessere Lebensqualität. Und das wertet Erstautor Freund als „ganz wichtiges Ergebnis“, vor allem wenn man berücksichtige, dass es sich um schwerkranke Patienten handelte, die an weiteren Krankheiten wie Arthrose oder Depression litten. Diese verbesserte Lebensqualität, die über wissenschaftlich evaluierte Fragebögen ermittelt wurde, ist auf die intensivierte Versorgung in der Hausarztpraxis zurückzuführen. Ein solches Ergebnis, freut sich Freund, haben bisher erst wenige Studien zu Case Management gezeigt.

Diese über zwei Jahre beobachtete verbesserte Lebensqualität sei schlüssig, verifizierbar und wiederholbar, sagt Erstautor Freund. Überraschend sei diese Beobachtung gewesen, betont der Mediziner. Wahrscheinlicher, erwartbarer wäre gewesen, dass sich der Allgemeinzustand multimorbider chronisch Kranker über eine solche Zeitspanne höchstenfalls nicht verschlechtert hätte, betont Tobias Freund.

Statistische Zahlen geben Anstoß

Den Anstoß zu PraCMan gaben statistische Zahlen zu Disease-Management-Programmen (DMP) im Jahr 2009. DMPs sollen Behandlungsablauf und Versorgungsqualität für chronisch Kranke verbessern, Folgeschäden vermeiden und deren Lebensqualität erhalten oder verbessern. DMPs setzen aktive Patienten voraus, die gemeinsam mit dem (Haus-)Arzt eine Therapie beschließen, annehmen und befolgen. DMPs gibt es jeweils für die Indikationen Diabetes Typ 1 und 2, Brustkrebs, Koronare Herzkrankheit, Asthma bronchiale, COPD sowie chronische Herzinsuffizienz.

Obwohl DMPs seit den 2000er Jahren flächendeckend eingesetzt werden, wurden ebendiese Patienten häufig in Krankenhäuser eingewiesen. COPD, Herzinsuffizienz und Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 zählen jedoch zu denjenigen Krankheiten, bei denen sich für die betroffenen Patienten ein Krankenhausaufenthalt potentiell vermeiden lässt, sofern die Grundversorgung gut ist. So sieht es das internationale Public-Health-Konzept der „Ambulatory Care Sensitive Conditions“ (ACSC) vor, das als Gradmesser für die Qualität der Grundversorgung gilt.

ACSC ist in der Welt der Krankenhäuser, Kostenträger und Gesundheitspolitik ein wichtiger Public-Health-Begriff, erklärt Tobias Freund. Aus ökonomischer Sicht, weil jeder Krankenhausaufenthalt viel Geld kostet, 2016 durchschnittlich rund 4.500 Euro (Statistisches Bundesamt, 10.11.2017). Aber auch aus Sicht der Patienten, weil diese dort Gefahr laufen, sich Infektionen zu holen oder ihr selbstständiges Leben zu verlieren drohen.

Wertvolle Hinweise von Hausärzten

Da die Versorgungsforschung wenig über die Hintergründe von ACSC weiß, musste Freund selbst tätig werden: Auf Basis pseudonymisierter Routinedaten besprach er - nach positivem Ethikvotum - mit zahlreichen Hausärzten konkrete Krankenhausfälle, die angeblich vermeidbar gewesen wären. Das Ergebnis überraschte ihn: Nur 40 % der potentiell vermeidbaren Krankenhauseinweisungen waren tatsächlich vermeidbar. Dazu zählten Medikationsfehler der Patienten, überfürsorgliche oder fehlende Angehörige, unzureichende Selbstbeobachtung, klinische Verschlechterung (keine Kenntnis von verschlechtertem Zustand). Diese Ergebnisse wurden zur Blaupause für die Suche nach Interventionen, deren Ergebnis PraCMan hieß.

Hilfreich waren auch Ergebnisse von Heidelberger Modellprojekten zum Case-Management in Hausarztpraxen mit Schwerpunkt Telefonmonitoring für jeweils eine Indikation. Daraus leiteten Freund und Kollegen ab, dass sich ein neues Versorgungsmodell am Patienten, nicht an einzelnen Krankheiten ausrichten sollte, was angesichts knapper Personalressourcen in Arztpraxen nahelag. Dies hatte kurze Zeit später (2010) auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen angesichts der demographischen Entwicklung (je älter der Mensch, desto höher die Zahl seiner Erkrankungen, vgl. RKI, Gesundheit in Deutschland) empfohlen.

Klar wäre, sagt Tobias Freund, dass PraCMan indikationsübergreifend sein müsse, weil Hausarzt-Praxen nicht mehrere parallele Programme laufen lassen können, und klar wäre auch, dass es diejenigen Krankheiten sein sollten, für die bereits Versorgungsmodelle bestünden, die aber für sich allein scheinbar nicht genügten – so blieben Diabetes Typ 2, COPD und Herzinsuffizienz übrig.

Weiterqualifizierte medizinisches Fachpersonal wie VERAHs entlasten Hausärzte, indem sie wie bei PraCMan nichtärztliche Leistungen übernehmen. © AOK Baden-Württemberg

Von PraCMan profitieren nicht nur therapietreue Patienten, sondern solche mit hohem Risiko auf eine baldige Krankenhauseinweisung. Dass diese nicht allein ein Algorithmus findet, sondern in einem zweiten Schritt der Hausarzt, die die „weichen Faktoren“ ihrer Hochrisikopatienten kennen, lernten Freund und Team in weiteren Studien.

Das Projekt PraCMan ist abgeschlossen, wird aber von der AOK Baden-Württemberg fortgesetzt. Inzwischen beteiligen sich knapp 700 Ärzte mit über 16.000 Patienten daran (Stand letztes Quartal 2017), teilte Carmen Gaa vom Fachbereich Integriertes Leistungsmanagement der AOK Baden-Württemberg auf Anfrage mit. Drei Gründe sprechen aus Versicherer-Sicht für PraCMan: Signifikante Verbesserungen bei COPD-Patienten, die gestiegene Lebensqualität bei Multimorbiden sowie dessen Eignung als strukturpolitisches Instrument. Angesichts des drohenden Ärztemangels entlasten VERAHs den Hausarzt, der wiederum mehr Zeit für Patienten habe. „Nur so kann die Qualität in der Hausarztpraxis sichergestellt werden“, fasst Carmen Gaa zusammen.

Es bleibt die für den Patienten tröstliche Erkenntnis: Was statistisch nicht signifikant ist, muss noch lange nicht irrelevant sein.

Literatur

Freund, T. et al.: Medical Assistant-Based Care Management for High-Risk Patients in Small Primary Care Practices. A Cluster Randomized Clinical Trial, in: Annals of Internal Medicine, 2016 Mar 1;164(5):323-30, Epub. 02.02.2016, doi:10.7326/M14-2403.

Freund, T.: Einzelcoaching für Mehrfachkranke, in: Gesundheit und Gesellschaft, Das AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft, 6/2012, Berlin 2012

Freund, T. et al.: Strategies for Reducing Potentially Avoidable Hospitalizations for Ambulatory Care – Sensitive Conditions, in: Ann Fam Med 2013;363-370. doi:10.1370/afm.1498.

Robert Koch-Institut (H): Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gemeinsam getragen von RKI und Destatis, Berlin 2015, v.a. Kapitel 8, Wie gesund sind die ältere Menschen?

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